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Judith Rosmair im Interview mit Irene Bazinger

(c) Cordula Treml

„Phantasie ist der größte Muskel“

Judith Rosmair arbeitet seit Jahren als freischaffende Schauspielerin. Von den Theaterschließungen wegen der Corona-Pandemie ist sie hart getroffen. Wie sie damit umgeht und dass sie trotzdem weiter an das Theater glaubt, erzählt sie hier im Gespräch mit Irene Bazinger. Es fand im November 2020 statt.

Bazinger: Frau Rosmair, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Darstellung von Fräulein Julie in dem gleichnamigen Stück von August Strindberg!

Rosmair: Vielen Dank! Es war ja wirklich Glück, dass wir diese Produktion am Renaissance-Theater Berlin noch herausbringen konnten. Denn nach wenigen Aufführungen musste es wegen der Corona-Pandemie wieder schließen.

FRL. JULIE:  (c) Barbara Braun/ www.mutphoto.de 

Sie haben lange fest etwa am Schauspielhaus Bochum, am Thalia Theater Hamburg und an der Schaubühne Berlin gearbeitet. Seit 2012 sind Sie freischaffende Schauspielerin. Bereuen Sie das nun in dieser Zeit, in der so vieles abgesagt wird?

Es wäre schon schön, jetzt stabile Verhältnisse und ein sicheres Einkommen zu haben. Aber ich habe mich damals aus persönlichen und aus künstlerischen Gründen selbstständig gemacht. Nach zwanzig Jahren Festanstellung hatte ich Angst vor der Routine. Ich wollte etwas Neues ausprobieren und mich noch einmal neu erfinden. In der Zeit danach habe ich wirklich tolle Erfahrungen gemacht, gute Projekte realisieren können, es kam zu großartigen Begegnungen. Deshalb hat es sich unbedingt gelohnt, den Schritt in die Freiheit zu wagen. Aufwändig und anstrengend ist nur das bürokratische Drumherum mit Anträgen, Formularen, unterschiedlichen Regularien in Sachen Finanzamt, Krankenkasse, Sozialversicherung und so weiter und so fort. Das hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Es gibt Tage, da fühle ich mich vor allem als Buchhalterin meiner Selbst.

Wie hat die Pandemie Ihre künstlerischen Pläne torpediert?

Die hat heftig reingehauen, muss ich sagen. Ich war nämlich im Frühjahr einen Monat lang ins Théâtre de la Colline in Paris eingeladen. Dessen Intendant, der Schriftsteller und Regisseur Wajdi Mouawad, hatte mich mit meinem Stück „Curtain Call!“ eingeladen. Gefördert von der Heinz und Heide Dürr Stiftung und der Rusch-Stiftung hatte ich es 2015 in den Berliner Sophiensaelen herausgebracht, als Autorin, Schauspielerin und Produzentin. Begleitet werde ich bei diesem Solo von dem Posaunisten Uwe Dierksen vom Ensemble Modern. Dieses Gastspiel fiel komplett aus.

CURTAIN CALL!: (c) Ebby Koll 

Das heißt, es gab auch keine Entschädigung seitens des Theaters oder einer Versicherung und Sie standen ganz mit leeren Händen da?

Gegen solche höhere Gewalt kann man sich leider nicht versichern. Wir bekamen eine sehr kleine Summe vom Theater, dem damals natürlich ebenfalls alle Einnahmen weggebrochen waren. Mit diesem Geld haben wir den Übersetzer bezahlt, der schon die Übertitel für das französische Publikum geschrieben hatte, und wir haben die Produktion einer Hörspielversion von „Curtain Call!“ finanziert, für die sich hoffentlich der eine oder andere Sender interessieren wird.

Nachholen lässt sich dieses Gastspiel in Paris nicht?

Nein, denn für das nächste Jahr drängen schon eigene Produktionen des Theaters nach und müssen gezeigt werden, also wird es nichts mit einer Verschiebung.

Im November 2020 kam der vorerst letzte Shutdown. Und der hat Sie dann wieder erwischt?

Dummerweise ja. Denn am 24. Oktober fand die von Torsten Fischer inszenierte Premiere von „Fräulein Julie“ mit Dominique Horwitz und mir im Renaissance-Theater statt, aber die Tournee, die uns anschließend in 17 Städte führen sollte, musste erst einmal abgesagt werden. Die hatte jeder von uns allerdings als feste Einnahmen für sein Jahresbudget eingeplant …  Doch vielleicht haben wir Glück und dürfen diese Tournee zumindest in Teilen in den nächsten Monaten nachholen.

Können Sie noch Ihre Miete bezahlen oder mussten Sie sich dafür schon Geld leihen?

Es geht gerade so. Als die Zeiten besser waren, habe ich Rücklagen angespart. Ich hoffe, sie reichen aus und ich kann bald wieder etwas verdienen. 

Wie kommen Sie mit der psychischen und emotionalen Belastung durch diese Zwangspausen zurecht?

Ich arbeite gern für Film und Fernsehen, aber das Theater ist einfach meine große Liebe. Der jetzige Zustand geht mir nahe und zerreißt mich fast, weil damit die grundsätzliche Situation der Theater so bedroht ist. Theater ist eine Präsenzkunst, bei der sich lebendige Menschen treffen, auf der Bühne und im Saal. Wenn dieses Live-Event nicht stattfinden kann, hinterlässt es eine gewaltige Leere, die auch nicht gefüllt werden kann, wenn man jeden Abend bei einer Netflix-Serie vor dem Bildschirm verbringt. Ich spüre diesen Verlust nicht nur als Schauspielerin, sondern ebenso als Zuschauerin. 

Was genau fehlt, wenn die Theater geschlossen sind?

Die Theater sind Versammlungsorte, an denen Menschen gemeinsam das Leben in all seinen Widersprüchen erfahren können. Das hat eine intellektuelle wie eine emotionale und spirituelle Dimension. Dieser Echoraum wird Abend für Abend neu erschaffen und bleibt dadurch frisch und vital. Die Zuschauer kommen, obwohl sie im seltensten Fall Antworten auf ihre Fragen erhalten, denn die Tragödie hat keine Antworten. Sie ist ein Prozess, und an dem wollen die Leute teilhaben, sie wollen mitdenken und mitfühlen. Und jetzt sollen die Theater mit ihrer hochartifiziellen künstlerischen Vielschichtigkeit beweisen, dass sie „systemrelevant“ sind! Wie soll das gehen? Nein, Kultur und Theater sind etwas, das sich die Gesellschaft leisten wollen muss, unabhängig von Einnahmen und Quoten und Pandemien.

Haben Sie, wie der Entertainer Helge Schneider, Bedenken, von der Bühne her in lauter Gesichter zu blicken, die einen Mund-Nasen-Schutz tragen?

Natürlich macht es einen Unterschied, wenn man sieht, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer lächeln oder verwirrt sind oder erschöpft. Aber ich habe festgestellt, dass man durchaus allein an den Augen und an der Haltung erkennen kann, wie jemand in einem bestimmten Moment gestimmt ist. Man spürt dessen Aufmerksamkeit auch so. Gefürchtet habe ich mich höchstens vor einem halb leeren Saal. Doch durch das Bewusstsein der Künstler wie des Publikums, dass eine Theateraufführung heutzutage etwas ganz Besonderes ist, hat sich das wieder ausgeglichen: Weniger Leute – mehr Konzentration. 

Alles läuft seit März auf Abstand, selbst das Schauspielen. Beeinträchtigt Sie das bei der Arbeit?

Auf der Bühne habe ich kein Problem mit der Zeichenhaftigkeit, zu der uns die Pandemie mit ihren Abstandsgeboten zwingt, ich war eh noch nie eine Freundin des Naturalismus im Theater. Denn ich halte die Phantasie für den größten Muskel des Menschen! Wenn der stark angesprochen wird, muss man sich nicht echt prügeln oder küssen, man kann auch Zeichen, also szenische Übersetzungen dafür finden. Und mein Corona-Solo „Endlose Aussicht. Ferien auf dem Seuchendampfer“ von Theresia Walser, das ich beim Kunstfest Weimar mit Videos von Theo Eshetu im September uraufführte, war von Anfang an als Open-Air-Event mit Live-Kameras geplant. Die Zuschauer trugen Kopfhörer und brachten sich Decken mit.

ENDLOSE AUSSICHT: (c) Thomas Müller/ Kunstfest Weimar 2020

Wird der der neu entwickelte Impfstoff wieder für normale und angstfreiere Verhältnisse sorgen?

Das wird noch eine Weile dauern, aber alles, was Hoffnung bringt, ist gut! Ich scharre absolut mit den Hufen, dass ich bald wieder arbeiten kann.

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JUDITH ROSMAIR

Wuchs mit neun Geschwistern in der Nähe von München auf. Sie studierte an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und war fest am Schauspielhaus Bochum, am Thalia Theater Hamburg und an der Schaubühne Berlin engagiert. Dort arbeitete sie mit Regisseuren wie Dimiter Gotscheff, Nicolas Stemann, Martin Kušej, Stephan Kimmig, Falk Richter, Jürgen Kruse, Frank Castorf, Jürgen Gosch, Leander Haußmann, Werner Schroeter und Thomas Ostermeier zusammen. Für die Rolle der Dorine in „Der Tartuffe“ nach Molière (Regie: Dimiter Gotscheff) und der Gudrun Ensslin in „Ulrike Maria Stuart“ von Elfriede Jelinek (Regie: Stemann) – beide am Thalia Theater – wurde sie 2007 als Schauspielerin des Jahres bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift theater heute ausgezeichnet. Seit 2012 arbeitet Judith Rosmair als freischaffende Schauspielerin. Sobald es möglich ist, wird sie wieder in Strindbergs „Fräulein Julie“ am Renaissance-Theater Berlin (Regie: Torsten Fischer) zu sehen sein.

2015 entwickelte sie mit dem Posaunisten Uwe Dierksen (Ensemble Modern) ihren Soloabend „Curtain Call!“, der in Koproduktion mit den Sophiensaelen Berlin entstand und von der Heinz und Heide Dürr Stiftung und der Rusch Stiftung gefördert wurde. 

IRENE BAZINGER

Ist freie Journalistin in Berlin und arbeitet als Theaterkritikerin vor allem für die FAZ und die Berliner Zeitung. Sie veröffentlichte Bücher über die Regisseurinnen Andrea Breth und Ruth Berghaus und zusammen mit Peter Raue die Anthologie: „Wir Berliner!“ Als Mitglied im Kuratorium der Heinz und Heide Dürr Stiftung ist sie beratend für den Bereich Theater / Autorenförderung tätig.