Der Intendantin und Regisseurin des theaterforum kreuzberg, Anemone Poland, ist es erneut gelungen, mit Aria da Capo – eine tragische Farce von Edna St. Vincent Millay, eine in ihrer Heimat zu Unrecht vergessene und in Europa und Deutschland nahezu unbekannte Autorin als deutsche Erstaufführung auf die Bühne zu bringen. Die amerikanische Dichterin Edna St. Vincent Millay (1892-1950) war eine hochbegabte Künstlerin mit einer bewegenden Biographie, die aus ärmlichen Verhältnissen stammte und nach einem Stipendium in New York 1923 den Pulitzer-Preis erhielt. Ihr Ruhm verblasste jedoch schnell, da sie ihrer bevorzugten Gedichtform, dem Sonett, treu blieb, obwohl diese zunehmend als veraltet und konventionell galt. Ihre Verse stehen in amerikanischen Schulbüchern - in Europa blieb sie so gut wie unbekannt, in Deutschland sogar gänzlich. Lange Zeit stellte sich niemand der Herausforderung, die rhythmischen und markanten Reime aus dem Amerikanischen ins Deutsche zu übertragen. Edna St. Vincent Millay selbst bezeichnete Aria da capo als eines ihrer besten Werke: „I am very proud of it. I wish I had a dozen more, not like it, but as good ”.
Aria da capo wird als tragische Farce untertitelt. In der Theatersprache ist eine Farce eine Komödie, im Falle von Aria da capo eine tragische, deren Ziel es ist, das Publikum durch die Darstellung von extravaganten, bewusst absurden, aber durchaus denkbaren Situationen, durch Sprachwitz, Wortspiele und Verkleidungen zu unterhalten.
Die Besonderheit des Einakters mit einer Spieldauer von ca. 75 Minuten liegt u.a. darin, dass zwei Theaterstile, die Commedia dell‘arte und die griechische Tragödie, miteinander kombiniert werden, was in den 1920er Jahren ein Novum darstellte. Auch zwei gegensätzliche Handlungsstränge, die teils abwechselnd, teils gleichzeitig ablaufen, stehen miteinander in Beziehung. „Da capo“ (lat.: noch einmal von vorne beginnen) wird in Aria da capo wörtlich genommen, indem die beiden Handlungsstränge etwa in der Mitte des Stückes mit anderen Darsteller*innen und anderen Kostümen wiederholt werden.
Wie so oft im Theater gibt es auch bei Stücken, die Jahrzehnte oder Jahrhunderte alt sind, offensichtliche Bezüge zur Gegenwart, die sich aber eher im Kopf des/der Zuschauer*in abspielen dürfen, als bewusst auf der Bühne angesprochen und als solche inszeniert werden.
Der Spielleiter Cothurnus (eine Figur des griechischen Theaters) kontrolliert die Szenen und bestimmt, was gespielt wird, indem er die Tragödie (manchmal symbolisch mit einer Peitsche unterstrichen) bewusst und unaufhaltsam vorantreibt. Er choreographiert eine Spaltung zwischen zwei Hirten, die friedlich und unbekümmert die Herde hüten. Aus einem spielerischen Impuls heraus soll eine Grenze gezogen werden, die „Deins“ von „Meins“ voneinander trennt. Die beiden Hirten merken schnell, dass aus dieser Grundidee keine Spielfreude erwächst und versuchen das Spiel zu beenden. Doch Cothurnus souffliert und sät damit Zweifel und Misstrauen. Er erhöht den Druck, indem er dem einen Hirten Bodenschätze in Form von Edelsteinen und Gold, dem anderen Wasser zur Verfügung stellt. Die Verhandlungen scheitern und die Szene endet mit zivilen Opfern, nämlich den beiden ursprünglich befreundeten Hirten.
Zwischenzeitlich mag der Gedanken entstehen, dass Cothurnus exemplarisch für die sozialen Medien stehen könnte, die politisch orchestriert, die Spaltung durch erbitterten Streit unentwegt vorantreiben, indem sie Bedürfnisse und Einstellungen kreieren.
Die beiden Charaktere Pierrot und Columbine, die den zweiten Handlungsstrang prägen, sind zwei bekannte Figuren der Commedie dell’arte. Sie lassen sich von den tragischen Ereignissen um sich herum nicht beeindrucken, Hauptsache der Tisch ist immer reich gedeckt und es ist Platz für erotische Anspielungen und ein wenig poetische Melancholie. Auch hier mag sich für den einen oder anderen ein aktueller Bezug ergeben, indem die Frage aufgeworfen wird, wie jede*r Einzelne Anteil nimmt am kollektiven oder auch individuellen Schicksal seiner Mitmenschen und/oder Mitvölker. Cothurnus jedenfalls hat darauf eine Antwort, indem er vorschlägt, die toten Hirten, die das fröhliche Treiben zwischen Pierrot und Columbine stören, einfach unter den Tisch zu kehren.
Regie und Bearbeitung: Anemone Poland
Musikkomposition: Dirk Rave
Bühne: Robert Schmidt-Matt
Kostüme: Gertraud Wahl-Deschan & Nathalie Säwert
Lichtdesign: Katri Kuusimäki
Bühnentechnik: Vinzent Wobeser
Fotografie: Vanessa Nicette
Es spielt das Ensemble des theaterforum kreuzberg:Philipp-Manuel Bodner, Esteban Castro Ramos, Katharina Försch, Martin Hamann, Svenja Otto, Alex van Ric, Sabine Roßberg, Romana Schneider-Otto