Allgemein Der (etwas) andere Advent 2020

4. Advent: “Füreinander da sein.”, von Dr. Kurt Anschütz

20.12.2020, 4. Advent

Die Folgen von Corona sind mannigfaltig. Aus der Sicht unserer Förderbereiche Bildung und Kultur konnten die Kinder von St. Joseph und die Schauspielerin Judith Rosmair an den vorangegangenen Adventssonntagen einen Einblick in die Reichweite der Pandemie geben. Doch, was ist mit der Forschung? Ohne Frage, Forscher*innen sind jetzt noch mehr denn je gefragt, schnell und verantwortungsvoll zu handeln. Ja, das Problem lösen, das sollen sie. Wir setzen großes Vertrauen in die Forschung, wenn wir sie brauchen.

Einer unserer Projektpartner im Förderbereich Forschung ist die Stiftung Tinnitus und Hören Charité. Gemeinsam versuchen wir den Zusammenhang von Stress und Tinnitus zu erforschen und zu kommunizieren. Tinnitus ist eine Erkrankung für die es kein Medikament gibt. Eine Volkskrankheit, die mit Stress in Zusammenhang steht – das haben Studien gezeigt.

Dr. Kurt Anschütz, Geschäftsführer der Stiftung Tinnitus und Hören Charité, berichtet an diesem 4. Advent wie Corona sich zu dem Zusammenhang von Stresss und Tinnitus dazugesellt und was das für die Betroffenen bedeutet!


Vierter Advent: Füreinander da sein.

Tinnitus macht einsam. Das Geräusch ist im Kopf, und kein Zweiter kann es hören. Der Tinnitus ist nicht immer gleich. Wenn Patient*innen darstellen wollen, wie er sie bedrängt, dann malen sie ihn als Kreischer, Säger und Hämmerer, als Pfeifton oder als Störer, der Tag und Nacht keine Ruhe gibt. Aber auch wenn er sich vorübergehend zurücknimmt, bleibt er unterschwellig dennoch da – ein Stressor noch in der Abwesenheit.

Es gibt kein Medikament. Bei chronisch gewordenem Tinnitus geht die therapeutische Bemühung dahin, dass der Patient allmählich mit dem Tinnitus zu leben lernt. Das erfordert Geduld und immer auch die Bereitschaft zur Überprüfung der Lebensverhältnisse. Zu ihrer Veränderung braucht es oft großen Mut.

Erfreulicherweise gelingt es vielen Patient*innen im Laufe der Zeit, den Tinnitus aus ihrer Wahrnehmung zurückzudrängen. Und wenn er dann plötzlich wieder da ist, dann ist er immer noch Stressor, aber nun doch auch Stimme: „Er mahnt mich. Du hast Dich wieder einmal übernommen“, berichten Patienten von ihrem inneren Dialog.

Der Stressreduktion kommt tatsächlich ganz besondere Bedeutung zu. Denn in Untersuchungen, die dank der Förderung durch die Heinz und Heide Dürr Stiftung in den letzten Jahren am Tinnituszentrum der Charité durchgeführt wurden, konnte ein wechselseitiger Zusammenhang von Tinnitus und Stress belegt werden.

Mit der Corona-Pandemie ist in diesem Jahr nun ein Stress aufgetreten, der uns alle überzieht. COVID 19 frisst sich in unser Leben ein und verstört uns durch „letzte Fragen“, die vor wenigen Monaten noch weit weg schienen: Fragen nach Verlässlichkeit und Zugehörigkeit, nach Sinn und Sterben. In der Adventszeit, in der wir uns seit alters auf Festtage und Gemeinschaftserlebnisse freuen, ist nun in Deutschland die „zweite Welle“ der Pandemie angekommen, und die gegenwärtigen „Fallzahlen“ beweisen vollends die Gewalt dieses Virus: „Es droht uns aus dem Ruder zu laufen“, ist zum Bild für den allgemeinen Eindruck der Hilflosigkeit geworden. Und trotz der anlaufenden Impfungen werden die meisten Menschen doch noch Monate warten müssen, bis auch sie geschützt sein werden.

Wenn globale Studien zeigen, dass die Pandemie bei Millionen Menschen quer durch alle Altersklassen zu Erschöpfungszuständen, zu Verlustängsten und zur Erfahrung von Einsamkeit geführt hat, dann manifestieren sich diese Belastungen gerade auch bei Tinnituspatienten. So hat eine europäisch-amerikanische Studie bereits im Herbst gezeigt, dass bei etwa 40 Prozent der mehr als 3.000 befragten Patienten der Tinnitus wesentlich störender erlebt wird. Dies war zu erwarten, denn Dauerstress macht nicht nur vulnerabler, sondern gleichzeitig sind gerade auch jene Entlastungen, die in der Tinnitustherapie als wesentlich angesehen werden, durch die Pandemie teilweise unmöglich geworden: Der Kontakt mit anderen Menschen ist stark reduziert, anregende Begegnungsorte wie Vereine, kulturelle Veranstaltungen, Restaurants und Sportgruppen sind geschlossen, durch die Arbeit im Homeoffice fällt der tägliche Kontakt mit den Kollegen seit Monaten schon aus. Viele Patienten klagen über zunehmende Einsamkeit und wachsende Angst und leiden darunter, dass die Empathie der Umwelt abnimmt, weil die meisten anderen Menschen nun durch ihre eigenen Probleme absorbiert sind. Die Pandemie trennt die Menschen voneinander, aber für Tinnitusbetroffene ist dies eine besondere Teufelsspirale: Denn wenn externen Anregungen wegfallen und die Außenbeziehungen brüchig werden, fällt es schwer, die Aufmerksamkeit weiterhin vom Tinnitus wegzulenken, der dadurch umso beherrschender auftreten kann. Das Virus infiziert nicht nur, sondern es greift auch die psychischen Abwehrkräfte an.

Weitere Untersuchungen werden zeigen, ob und wie sich bei Tinnituspatienten die Pandemie in der mittleren Dauer auswirken wird. Zu hoffen ist, dass mit der Wiederkehr einer „aufgeschlosseneren Welt“ auch die emotionale Belastung und der Leidensdruck durch den Stressor im Kopf und im Gemüt wieder abnehmen werden.

Advent: Gegenläufig zur „zweiten Welle“ ist die Vorweihnachtszeit auch in diesem Jahr die Zeit der Menschensehnsucht: Wir hoffen auf Licht und auf Wärme, so stark, wie vielleicht noch nie.

Abstand halten, gewiss. Aber die Stimme des Weihnachtsfestes ruft die Menschen zusammen. Wir sollen füreinander da sein.

Hier finden Sie ganz persönliche Tinnitus-Geschichten:

Und hier Zeichnungen des erlebten Tinnitus!