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Einfach erklärt: Was bedeutet der Lock-Down für KiTa-Kinder?

von Sasha Katja Saumweber

Da lässt sich nichts schönreden! Natürlich geht es der Mehrheit der Kinder in ihren Familien gut. Aber es gibt eben auch die Familien, wo das nicht so ist. Diese Kinder sind auf KiTas und insbesondere auf die pädagogischen Fachkräfte angewiesen. Warum? Sasha Katja Saumweber, Koordinator:in und Fachberater:in für Early Excellence in der Region SüdWest, nähert sich dieser Frage, indem sie mutig genug ist, 5 prägnante Fakten aufzustellen, die man nicht wegargumentieren kann.

Die Pandemie wirkt wie ein Brenn- oder Vergrößerungsglas auf Themen, die schon lange bekannt sind und dennoch immer wieder aus dem politischen und gesellschaftlichen Blickfeld fallen:

1. Thema Bildungschancen und Armut 

Längst ist bekannt, dass Kinder in Familien, die in finanziellen Schwierigkeiten leben, weniger Anregungen zu Hause bekommen, z.B. seltener vorgelesen wird und außerdem weniger gemeinsame Familienaktivitäten als bei Kindern aus nicht von Armut betroffenen Familien stattfinden. All dies wirkt sich wiederum auf das Spiel- und Arbeitsverhalten der Kinder aus, oft muss dann z.B. der Schuleintritt verschoben werden1 und es entstehen deutliche Bildungsbenachteiligungen. Dass Kitas hier einen zentralen Bildungsauftrag haben und dabei kompensatorisch wirken, bestreitet heute niemand mehr. Wie stark dieser kompensatorische Ausgleich von Bildungsbenachteiligung durch die Kita ist, wird durch die Pandemie erst so richtig deutlich werden. Und wie stark sich eben diese Lücke in der Bildungsbegleitung durch die KiTa-Schließungen auf die Bildungsbiografien der heute 4-6-Jährigen auswirkt, wird sich erst in den kommenden Jahren in Gänze zeigen. Selbst mit einem zutiefst verinnerlichten optimistischsten und positiven Blick mache ich mir diesbezüglich große Sorgen und finde es unabdingbar, endlich flächendeckende Konzepte und Regelungen zu entwickeln, wie sich diese Lücke, so gut es geht, schließen lässt – nicht nur für die Schulen, sondern eben auch für die KiTa-Kinder!

2. Gesundheit

Laut Siggelkow (Leiter der Arche Berlin) haben im 1. Lockdown viele der Kinder, die er in der Arche betreut, zwischen 10 und 20 Kilo zugenommen.2 Wir wissen aus Studien heute, wie sehr die Gesundheit von Kindern vom sozialen Status der Familien abhängt und wie wichtig und ausgleichend hier die Betreuung in der KiTa für eben diese Kinder ist (Erkenntnisse aus Forschungen zu Kindern im Vorschulalter, dass sie aus armen Verhältnissen häufiger Mängel in der Grundversorgung aufweisen, dass sie häufiger z.B. hungrig in die KiTa kommen und es in diesen Familien vermehrt bei der körperlichen Pflege hapert3. Wenn nun diese Betreuung über einen längeren Zeitraum wegfällt, wird sich das negativ auf den Gesundheitszustand eben dieser Kinder auswirken mit all seinen Folgen für die weitere Entwicklung. Gerade der Aspekt Ernährung sollte deshalb in meinen Augen dringend in den Fokus genommen und überlegt werden, wie man eben diese Familien z.B. mit einem „gesunden Frühstückskorb“ erreichen kann oder ob es vielleicht sogar Ausgabestellen in den KiTas geben könnte – die Schlangen an den Tafeln sind im Augenblick unerträglich lang.  

3. Emotionale Entwicklung

Laut DJI-Studie fühlten sich bereits während des 1. Lockdowns v.a. Kinder aus finanziell belasteten Familien deutlich häufiger einsam, niedergeschlagen und ängstlich als Kinder aus finanziell besser gestellten Familien. Insgesamt hat ein Drittel aller Befragten Schwierigkeiten, mit der Situation umzugehen.4 Ein großes Thema, welches ich auf uns zurollen sehe, ist die Frage, was diese ständige latente Angst sowohl bei den erwachsenen Bezugspersonen als auch direkt bei den Kindern für Auswirkungen auf deren Entwicklung haben wird. Dabei stellt sich mir als Fortbildner:in besonders die Frage, wie gut aufgestellt die pädagogischen Fachkräfte zum Thema der emotionalen Entwicklungsbegleitung von Kindern sind und was aber auch sie selbst zur Ver- und Bearbeitung eigener emotionaler Belastungen durch die Krise brauchen. Ich denke, hier werden wir völlig neue Fortbildungskonzepte und Begleitungen in den KiTas entwickeln müssen, die nicht nur den kognitiven Wissenstand anreichern, sondern eben auch dazu in der Lage sind, Krisenerfahrungen achtsam und sensibel aufzuarbeiten. 

4. Partizipation und Teilhabe

Wir erleben seit Beginn der Pandemie einen schmerzhaften Rückwärtssalto in der Pädagogik: Auch die Early Excellence-Häuser arbeiten wieder in kleinen geschlossenen Gruppen. Zum Infektionsschutz ist dies sicherlich unabdingbar. Für die Entwicklung von jungen Kindern stellt uns dies vor eine große Herausforderung. Es fehlt die freie Wahlmöglichkeit des Spielpartners, des Spielortes und der Spieldauer, wie es der Orientierungsplan Baden-Württemberg beispielweise fordert. Somit ist das Selbstwirksamkeitserleben für Kinder im Augenblick an vielen Orten erheblich eingeschränkt. Um so wichtiger ist es, den Freiraum in den geschlossenen Gruppenräumen so weit zu dehnen wie nur möglich und sich als Team immer wieder kritisch zu reflektieren, wo Einschränkungen der Kinder vielleicht wieder aufgehoben und ihre Mitsprache und Teilhabe trotz allem ermöglicht werden kann.  

5. Kinderschutz

Eine zentrale Aufgabe von Kitas ist es, Zugang zu Kindern und deren Familien zu haben, den andere Hilfesysteme so leicht nicht bekommen. Da der Zugang in die Kita so niederschwellig ist und ca. 98 % aller Kinder zwischen 3 und 6 Jahren in einer Einrichtung betreut werden, ist hier ein gewisser Schutz der Kinder per se sichergestellt. Sie alle tauchen regelmäßig in einer Kita auf, sind dort mit aufmerksamen und gut geschulten Fachkräften in engem Kontakt, wodurch eine mögliche Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkannt werden kann und die nötigen Schritte eingeleitet werden können. Diese Absicherung ist im Augenblick für viele Kinder nicht gegeben. Wie kann das Wohl dieser Kinder, die seit Wochen keine Kita mehr besuchen, sichergestellt werden? Wie können Institutionen mit den Familien weiterhin in einem guten Kontakt bleiben? Natürlich gibt es vielerorts bereits schöne Beispiele und Ideen. Was mich besorgt ist aber, dass diese Sicherstellung eben auch des Kinderschutzes dem freiwilligen Engagement der Pädagogischen Fachkräfte obliegt. Manche suchen schon seit Anbeginn der Pandemie ihre Familien regelmäßig zu Hause auf, sprechen am offenen Fenster mit den Eltern und Kindern, sind über Messenger-Dienste in regelmäßigem Austausch mit den Familien und den Kindern selbst. Ich weiß aber auch von Einrichtungen, die all diese Angebote nicht im Repertoire haben. 

Abschluss:

Natürlich geht es der überwiegenden Mehrheit der Kinder in ihren Familien gut, finden Anregungen, inspirierende Freizeitaktivitäten, gute Gespräch, Kuscheln und emotionale Nähe statt. Aber es gibt eben auch die anderen Kinder und ihre Familien, die ebenfalls das Beste wollen und dennoch an und mit ihren Belastungen straucheln und als Familie in Schwierigkeiten geraten. Gerade für diese Kinder und Familien sind Early Excellence-Einrichtungen ein wichtiger „One-Stop-Shop“, um die Unterstützung zu bekommen, die nötig und hilfreich ist. Wie schwer es für eben diese Familien ohne ihr Familienzentrum oder ihre Kita im Augenblick ist, können wir nur erahnen und hoffen, dass sich die Lage Richtung Frühjahr normalisieren wird und dann noch genügend Ressourcen und Kapazitäten vorhanden sein werden, um die entstandenen Wunden zu heilen. Und das wiederum wird nur möglich sein, wenn pädagogische Fachkräfte in unserer Gesellschaft endlich die Anerkennung bekommen, die ihnen aufgrund ihrer enormen gesellschaftspolitischen Verantwortung zusteht, die bei deren Wahrnehmung im Augenblick auch noch ihre Gesundheit riskieren. Es ist schier unerträglich, dass die Würdigung weder in medialer und schon gar nicht in monetärer Hinsicht der Bedeutsamkeit der systemrelevanten Hochrisikoarbeit von pädagogischen Fachkräften gerecht wird. 

Fußnoten

1 (z.B. TPS 1/21: Diversität ist das neue Normal. Artikel von Margherita Zander: Gefangen im Abwärtsstrudel (S. 16 ff.) ) 

2 (aus Süddeutsche Zeitung, Quelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/schule-corona-fernunterricht-1.5176453). 

3 in TPS 1/21: Diversität ist das neue Normal. Artikel von Margherita Zander: Gefangen im Abwärtsstrudel (S. 16 ff.) )

4 (aus “Kind sein in Zeiten von Corona” des Deutschen Jugendinstituts, Quelle: https://www.dji.de/themen/familie/kindsein-in-zeiten-von-corona-studienergebnisse.html)

Quellen

Ergebnisse der Studie “Kind sein in Zeiten von Corona” des Deutschen Jugendinstituts (DJI). Quelle:https://www.dji.de/themen/familie/kindsein-in-zeiten-von-corona-studienergebnisse.html:

  • Fast die Hälfte der befragten Eltern mit schwieriger finanzieller Lage gaben an, dass sich ihre Kinder während des 1. Lockdowns einsam fühlten gegenüber 21 % der Kinder aus Familien, die mit ihrer finanziellen Lage gut zurechtkommen
  • Auch mit Niedergeschlagenheit, Ängsten und Sorgen sowie mit Hyperaktivität haben mehr Kinder aus finanziell schlechter gestellten Familien zu kämpfen (44 Prozent vs. 18 Prozent // 39 vs. 18 Prozent) – und zwar umso mehr, je angespannter die Eltern ihre wirtschaftliche Situation empfinden
  • Mehr als die Hälfte der Eltern (53 Prozent), bei denen häufig oder sogar sehr häufig ein konflikthaltiges Klima zu Hause herrscht, gaben an, dass ihr Kind nicht gut mit den Veränderungen zurechtgekommen sei. Jede fünfte Familie (22 Prozent) berichtete, dass bei ihnen häufig oder sehr häufig ein konflikthaltiges beziehungsweise chaotisches Klima herrschte. Diese Situation kam offenbar verstärkt in Haushalten mit mehreren Kindern vor
  • Insgesamt hat 1/3 aller Befragten Schwierigkeiten mit der Situation umzugehen (Trennung von Freunden, fehlende Alltagstruktur und Freizeitaktivitäten sowie vermehrt Ängste)
  • Mädchen und Jungen im Kindergartenalter verbrachten nach Einschätzung der befragten Eltern die Zeit zuhause verstärkt mit traditionellen Medien wie Fernsehen (68 Prozent), Radio hören, Hörspiele oder Geschichten anhören (60 Prozent) sowie dem Betrachten von Bilder-büchern oder dem elterlichen Vorlesen (44 Prozent). Digitale Medien haben in diesem Alter nur einen geringen Stellenwert, wobei immerhin ein knappes Drittel der befragten Eltern angab, dass ihre Kinder häufiger am Computer oder Smartphone spielten und 14 Prozent, dass ihre Kinder öfter im Internet surften als zuvor

Zitate aus der Süddeutschenhttps://www.sueddeutsche.de/politik/schule-corona-fernunterricht-1.5176453:

  • „Sozial benachteiligte Kinder werden durch den Fernunterricht endgültig abgehängt, das bringt fatale Spätfolgen mit sich, kritisiert „Arche“-Chef Bernd Siggelkow“
  • Aus seiner Sicht funktioniert das Homeschooling „so gut wie gar nicht“ und „eigentlich hätte man die letzten Monate nutzen müssen, um in unserem Schulsystem etwas grundlegend zu verändern. Aber ich sehe da nur ein grandioses Durcheinander und zum Teil die blanke Ohnmacht. Ob aus ärmeren oder reicheren Familien, von nahezu überall hört man, dass sie einfach nicht mehr weiterkommen.
  • Von August bis heute wurde es nicht geschafft, die Digitalisierung in die Familien zu bringen oder überhaupt wenigstens einen Plan zu entwickeln für den Fall eines erneuten Lockdowns. „Da haben wirklich alle Verantwortlichen geschlafen. Und ich glaube, dass uns die Spätfolgen ziemlich weh tun werden. Es geht da ja nicht nur um verpassten Unterrichtsstoff. Bei vielen Schülern*innen ist ohne Präsenzunterricht die komplette Tagesstruktur zusammengebrochen (…)“ – Kinder bleiben viel zu lange wach, viele hocken nur noch vor dem Computer und zocken, bewegen sich nicht mehr, ernähren sich falsch … unsere Kinder haben im ersten Lockdown teilweise zwischen zehn und zwanzig Kilo zugenommen.“ 

TPS 1/21: Diversität ist das neue Normal. Artikel von Margherita Zander: Gefangen im Abwärtsstrudel (S. 16 ff.):

  • Untersuchungen (AWO-ISS-Studie, Beate Hock im Jahr 2000) zu Kindern im Vorschulalter: Kinder aus armen Verhältnissen weisen häufiger Mängel in der Grundversorgung auf, kommen z.B. häufiger hungrig in die KiTa, es hapert vermehrt bei der körperlichen Pflege (S. 18), bekommen weniger Anregungen zu Hause, es wird seltener vorgelesen und gibt weniger gemeinsame Familienaktivitäten als bei Kindern aus nicht von Armut betroffenen Familien. All dies wirkt sich auf das Spiel- und Arbeitsverhalten der Kinder negativ aus, oft muss dann z.B. der Schuleintritt verschoben werden
  • Die KiTa wird dabei als ausgleichende Instanz beschrieben (S. 18): „Kitas haben (…) die Möglichkeit, kompensierend zu wirken und Kindern aus armen Verhältnissen Welten zu erschließen, zu denen ihnen sonst der Zugang versperrt bliebe“ (S. 18). Aber auch im materiellen Bereich wie z.B. bei gesunder Ernährung oder witterungsgemäßer Kleidung (S. 19)

Zur Autorin:

Sasha Katja Saumweber, Dipl. Sozialpädagogin, ist seit 2014 Koordinator:in und Fachberater:in für Early Excellence bei der Heinz und Heide Dürr Stiftung. Sie berät und unterstützt in diesem Rahmen Träger von Kindertagesstätten und politische Gremien bezüglich der Implementierung des Bildungskonzeptes Early Excellence und der Weiterentwicklung der KiTa zum Familienzentrum. Neben der Beratung und Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften, Planung und Durchführung von Team- und Inhouse-Seminaren, Einzelfallberatung, Planung und Durchführung von Fachtagen, folgt sie ihrer empathischen Begeisterungsfähigkeit und entwickelt immer wieder neue strukturelle Weiterbildungsformate (z.B. Inklusion und Early Excellence in der Elementarpädagogik) im Sinne einer zeitgemäßen Pädagogik. Sie publiziert in Fachzeitschriften und ist seit 2012 Referent:in für Themen der frühkindlichenBildung und Early Excellence auf Kongressen und Fachtagen.  Darüberhinaus ist Sasha Katja Saumweber Marte Meo-Kolleg:innen-Trainer:in, Deep Inner Space Guide und lebt und wirkt in Stuttgart.

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