05 Region Südwest

Wie geht man mit herausforderndem Verhalten in EE-Einrichtungen um?

Einblick in Beratungsprozesse der Region Süd/West, Koordinatorin Katja Saumweber der Heinz und Heide Dürr Stiftung

Ein aktuelles Thema, das mir im Augenblick in vielen Beratungen in Early Excellence-Einrichtungen begegnet, ist die Frage, wie mit Kindern umgegangen werden soll, die in ihrem Verhalten immer wieder anecken oder wie Klaus Kokemoor es in seinem Buch so trefflich diskutiert: Kinder die aus dem Rahmen fallen (Kokemoor, 2018). Ich treffe dabei auf Fachkräfte, die sich intensiv mit dem sogenannten „Positiven Blick“ auf Kinder – dem Herzstück des Early Excellence-Ansatzes – auseinandergesetzt und diese dezidierte Ressourcenorientiertheit tief verinnerlicht haben. Beim Aufeinandertreffen mit herausfordernden Verhaltensweisen von Kindern geraten manche dabei in ein Dilemma: was tun, wenn die herausfordernden Verhaltensweisen so dominant werden, dass die Stärken, die Interessen, die Talente des Kindes dahinter verschwinden? Wie kann im Sinne des Early Excellence-Ansatzes  die „sanfte Intervention“ gelingen?

Für mich besteht im „Positiven Blick“ auf Kinder und herausforderndem Verhalten von einzelnen Kindern kein Widerspruch: einen positiven Blick auf Kinder zu haben bedeutet, ehrlich bereit zu sein, ganz genau hinzusehen, jedes einzelne Kind mit seiner Vielzahl an Entwicklungsthemen individuell verstehen zu wollen, um ihr/ihm dann die richtige Unterstützung und Begleitung anzubieten. Ganz im Sinne von Maria Aarts (Marte Meo – aus eigener Kraft): jedes auffällige Verhalten ist Ausdruck eines aktuellen Entwicklungsthemas des Kindes (Aarts, 2014). Einen positiven Blick einzunehmen bedeutet also nicht wegzusehen, eine rosarote Brille aufzusetzen und „schwierige“ Verhaltensweise durch Euphemismen zu „originellen“ Verhaltensweisen umzudeuten. Positiver Blick bedeutet, die aktuellen Entwicklungsthemen des Kindes präzise zu erkennen, um dann „sanft intervenieren“ zu können.

Beispiel:

David ist 4 Jahre alt. Es fällt auf, dass er „nicht ins Spiel findet“. Wie ziellos scheint er durch den Raum zu irren, läuft mal zu einer kleinen Gruppe von 3 anderen Jungs, die auf dem Bauteppich zusammen spielen, dann zu einer Gruppe von 4 Kindern am Maltisch, dann zurück zu den Jungs auf dem Bauteppich, bleibt kurz beim Rollenspielbereich stehen, in dem ebenfalls einige Kinder zusammen spielen. David wiederholt diesen „Rundgang“, wird dabei aber immer wilder, wirft plötzlich einen Bauklotz, den er den Jungs auf dem Bauteppich ohne Worte weggenommen hat, zu den Kindern in den Rollenspielbereich … und spätestens jetzt wird die Fachkraft eingreifen und David erklären, dass man nicht mit Bauklötzen auf andere Kinder wirft. Die Erklärung für dieses Verhalten lautet dann oft: David findet einfach nicht ins Spiel. Aber reicht diese Erkenntnis und wie kann David unterstützt werden, ohne dauernd beschämt, geschimpft, gebremst zu werden? Was sind „gute Sätze“ für ihn?

Positiver Blick heißt, neugierig und offenherzig tiefer zu graben um herauszufinden, weshalb David sich verhält wie er sich verhält und an welcher Stelle er auf welche Art und Weise unsere Unterstützung braucht.

In vielen meiner aktuellen Beratungsprozessen bewährt es sich, zusätzlich zu den ressourcenorientierten Beobachtungsbögen des Early Excellence-Ansatzes zur Identifizierung der Bildungsthemen noch videogestützt zu arbeiten, d.h. sich einer der videobasierten Beratungsmethoden zu bedienen (wie z.B. VHT oder Marte Meo). Mit Hilfe z.B. der Marte Meo-Methode werden Entwicklungsthemen des Kindes mit einer sogenannten Interaktionsanalyse herausgefiltert. Dabei geht es immer um zwei Ebenen: zum einen um das Kind selbst, zum anderen aber auch um die Interaktionsqualität zwischen Fachkraft und Kind. Die Interaktionsqualität zu verbessern ist letztlich das Ziel: nicht das Kind muss sich aus sich selbst heraus verändern, sondern die Fachkräfte verändern den Rahmen, das Setting, ihre Interaktionen mit dem Kind, so dass dieses wachsen und sein Entwicklungsthema bewältigen kann. David zurecht zu weisen, dass man mit Bauklötzen nicht werfen darf, wird sein dahinter liegendes Thema nicht lösen. Es wird  das ungewollte Verhalten Bauklötze zu werfen vielleicht abstellen – aber sicher nur für den Moment.

Um was geht es David wirklich? Er ist 4 Jahre und in einem Alter, in dem die Peerbeziehungen immer wichtiger werden. In der Videoanalyse kann deutlich erkannt werden, dass er Anschluss sucht, Freunde, dass er mitspielen will. Was David allerdings noch nicht entwickelt hat, ist, wie das genau geht. Hierfür ist Spielfähigkeit notwendig. Das heißt zunächst überhaupt Spielideen zu haben. Dann braucht es Worte,  um diese Spielideen benennen und damit einbringen zu können. Um Spielfähig zu sein, braucht es darüber hinaus die Fähigkeiten auf das Gegenüber eingehen zu können, die Initiativen des Anderen abzuwarten und sich abzuwechseln.  Gemeinsames Freuen und Spieltöne sind ebenfalls wichtig, um für andere Kinder interessant zu sein.  Soziales-Spielen ist also ein äußerst komplexer Vorgang.

Mit Hilfe der Videoanalyse kann häufig sehr schnell und deutlich gesehen werden, an welcher Stelle David Unterstützung braucht. In seinem Fall sind es die Worte. Er hat kaum Worte um sich auszudrücken und noch nicht gelernt wie das geht auf friedliche Art und Weise Anschluss mit anderen Kindern zu machen. Maria Aarts betont, dass es nun entscheidend ist, dass wir dem Kind bewältigbare Schritte anbieten (Aarts, 2014). Wir setzen ganz im Sinne Vygotski’s an der Zone der proximalen Entwicklung an und versuchen ein passgenaues Angebot zu machen.

David braucht also Worte, die ihm helfen, mit den anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Die Fachkraft kann z.B. sagen: „Ah David, du gehst zu Marvin, Tobi und Marcel und schaust zu wie die drei die großen Bauklötze aufeinander stapeln. Marvin, Tobi und Marcel schaut mal, David ist auch da. Er ist ganz interessiert an eurem hohen Turm.“

Die kleinen und einfachen Schritte sind dabei oft die, die auch wir Erwachsenen üben müssen. Wie geben wir die richtigen Worte, um, wie im Fall David, eine Brücke zu sein.  Meine Erfahrung zeigt , dass eine individuelle und passgenaue Unterstützung eine erstaunlich rasche Veränderung im kindlichen Verhalten herbeiführt.  Dabei braucht es aber eine genaue Handlungsplanung, die Videointeraktionsanalysen ermöglichen.

Margy Whalley (EEC) und Maria Aarts (Marte Meo) sind Schwestern im Geiste: beide sind beseelt von der Überzeugung, dass in jedem Menschen ein Schatz verborgen liegt, den es zu entdecken und ganz im Wortsinne aus den Tiefen heraufzubefördern gilt. Beide glauben fest daran, dass der Mensch reich ist an Potenzial und vielfältigen Fähigkeiten. In diesem Sinne erlebe ich die Marte Meo-Methode als hilfreiche Ergänzung und Unterstützung in meinen Beratungsprozessen in Early Excellence-Einrichtungen und freue mich sehr, dass wir zu diesem wichtigen Thema am 17.10.19 Klaus Kokemoor in Stuttgart zu einem Vortrag begrüßen dürfen. Er ist als Marte Meo Supervisor und Psychomotoriker bestens geeignet um über den Umgang mit „Kindern, die aus dem Rahmen fallen“ zu sprechen und vor allen Dingen anhand von zahlreichen Videosequenzen auch ganz anschaulich zu zeigen.

Veranstaltung: Das Kind, das aus dem Rahmen fällt – mit Klaus Kokemoor

Ort:                             Haus der Katholischen Kirche, Stuttgart

Datum:            Donnerstag, 17.10.19, von 15 – 18 Uhr

Anmeldung:                info@duerrstiftung.eu

Literatur

Aarts, Maria, 2014: Marte Meo: Eine Einladung zur Entwicklung. Eindhoven (Niederlande). Aarts Productions.

Aarts, Maria, 2011: Marte Meo. Ein Handbuch. Eindhoven (Niederlande). Aarts Production. 3. Überarbeitete Auflage.

Kokemoor, Klaus, 2018: Das Kind, das aus dem Rahmen fällt. Wie Inklusion von Kindern mit besonderen Verhaltensweisen gelingt. Munderfing. Verlag Fischer & Gann.