In den letzten Jahren liest man immer häufiger über die Folgen, wenn das Wohlbefinden im Betreuungsalltag von Kindern nicht (mehr) gegeben ist: Übergriffe auf Kinder, die „aus dem Rahmen fallen“, gestresste pädagogische Fachkräfte, hilflose Eltern. Prof. Dr. Susanne Viernickel beschäftigt sich in ihrer eigenen Forschungs- und Entwicklungsarbeit mit den Risiken, die das Wohlbefinden von Kindern gefährden und kann Strategien benennen, wie pädagogische Fachkräfte das Wohlbefinden aller Kinder im Blick behalten und Anzeichen von Wohlbefinden und Stress im kindlichen Verhalten erkennen können. Wir freuen uns sehr über die Gelegenheit, mit diesem Interview dem Thema „Wohlbefinden“ ein Stück näher zu kommen...

Was hat die Qualität einer Kita mit dem Wohlbefinden der ihr anvertrauten Kinder zu tun? Was bedeutet Wohlbefinden für Sie persönlich und warum interessieren Sie sich so sehr dafür?

Susanne Viernickel: "Aus meiner Sicht ist das Wohlbefinden von Kindern ein wichtiger Indikator für die pädagogische Qualität einer Kita. Denn schon im gesetzlichen Auftrag von Kitas ist verankert, dass diese die Entwicklung von Kindern umfassend fördern und sich dabei an deren individuellen Merkmalen, Interessen und Bedürfnissen orientieren sollen – also dafür zu sorgen haben, dass es den Kindern gut geht. Pädagogische Fachkräfte sind demnach aufgefordert, auf das einzelne Kind zu schauen. Ich denke, dass die Fähigkeit, Kinder zu „lesen“, also auf ihre Ausdrucks- und Verhaltenssignale zu achten, diese adäquat einzuordnen und pädagogisch angemessen zu reagieren, eine ganz zentrale Kompetenz von frühpädagogischen Fachkräften ist. Sich eine solche fragend-interessierte Beobachtungshaltung anzueignen ist möglich, und man kann darin sein Berufsleben lang besser werden!

Wir verwenden in unseren Forschungen und Projekten den Begriff Wohlbefinden sehr bewusst, weil wir davon überzeugt sind, dass damit ein umfassender Blick auf die Situation eines Kindes verbunden ist. In Anlehnung an ein gesundheitswissenschaftliches Verständnis sprechen wir von bio-psycho-sozialem Wohlbefinden. Im pädagogischen Alltag kann über den kindlichen Gesichtsausdruck, die Körperhaltung und das Verhalten auf aktuelles Wohlbefinden geschlossen werden; mit älteren Kindern kann man natürlich auch direkt darüber sprechen, was ihnen in der Kita Freude bereitet und was sie ärgert oder manchmal traurig macht. Merkmale für ein hohes Wohlbefinden sind bspw., dass das Kind einen entspannten und gleichzeitig vitalen Eindruck macht; dass es die Aktivitäten, in die es involviert ist, konzentriert und ausdauernd verfolgt und sie offensichtlich genießt; dass es seine Bedürfnisse und Anliegen offen ausdrückt, in positive soziale Interaktionen mit Erwachsenen und anderen Kindern eingebunden ist und Gruppenzugehörigkeit erleben kann. Natürlich gehört auch dazu, dass körperliche Bedürfnisse erfüllt sind und keine stärkeren Unlustgefühle aufgrund von Hunger, Durst, starker Bewegungseinschränkung oder Müdigkeit aufkommen."

Was braucht es Ihrer Meinung nach, damit pädagogische Fachkräfte das Wohlbefinden der Kinder gut im Blick behalten können und haben Sie eine Vorstellung davon, wie Early Excellence und das Wohlbefinden der Kinder zusammenhängen?

Susanne Viernickel: "Dafür braucht es auf der Seite der pädagogischen Fachkräfte sowohl generelles Wissen über Verhaltenssignale, Entwicklungsaufgaben und -themen von Kindern als auch die Bereitschaft und Kompetenz, jedes Kind als einzigartige Persönlichkeit zu sehen und sich mit dessen Anliegen und Bedürfnissen ernsthaft auseinander zu setzen. Und das ist ja auch ein Grundsatz im Early Excellence-Ansatz. Unter anderem deshalb werden im Early Excellence-Ansatz wissenschaftlich fundierte, systematische Beobachtungsverfahren genutzt. Sie können eine große Hilfe sein. Auf der anderen Seite spielen strukturelle Rahmenbedingungen eine Rolle, sie können unterstützend oder limitierend wirken. Bei akuten Personalengpässen oder insgesamt nicht hinreichenden Personalschlüsseln bleibt weniger Zeit und Energie für diese Form der Pädagogik. Sehr wichtig erscheinen mir auch der fachliche Austausch und die Reflexion im Team: Untereinander Beobachtungen auszutauschen, Annahmen über mögliche Ursachen von kindlichen Verhaltensweisen zu diskutieren und gemeinsam Ideen für pädagogische Umgangsweisen und Angebote zu entwickeln.

Der Early Excellence-Ansatz zielt darauf ab, die Potenziale, die jedes Kind in sich trägt, bestmöglich zur Entfaltung kommen zu lassen. Wenn ein Kind „im Wohlbefinden“ ist, dann lernt es leicht und gern, und das sind gute Voraussetzungen für eine positive Entwicklung."

Wie sieht Ihre Vision für die Kita der Zukunft aus?

Susanne Viernickel: "Darüber könnte man ein ganzes Buch schreiben. Ich wünsche mir ein System, in dem jede Familie Zugang zu einem qualitativ hochwertigem Bildungs- und Betreuungsangebot hat, das den Bedarfen und Bedürfnissen von Kindern und Erwachsenen entspricht. Die Kita der Zukunft wäre ein Lern- und Lebensort, an dem sehr gut qualifizierte Pädagog*innen räumliche, finanzielle und personelle Bedingungen vorfinden, um tragfähige Beziehungen zu den Kindern (und den Familien!) aufzubauen, spannende Aktivitäten und Projekte mit den Kindern zu gestalten und sich persönlich und als Team kontinuierlich weiter zu entwickeln. Die Sicherung des Wohlbefindens von Kindern stünde im Fokus von Qualitäts- und Personalentwicklung, aber auch die Arbeitsbedingungen, das Teamklima und die Gesundheit und das Wohlbefinden der pädagogischen Fachkräfte. Die Kitas der Zukunft wären im besten Sinne Teil des Sozialraums: interessante und interessierte Menschen sind eingeladen, Zeit in der Kita zu verbringen und Impulse beizusteuern, und die Kinder erobern den Nahbereich der Kita und erweitern nach und nach ihren Aktionsradius. Außerdem gäbe es keine institutionelle Trennung mehr zwischen Kita und Schule und ein einheitliches – inklusives - Bildungsverständnis mit einer klaren Orientierung an den individuellen Bedingungen und Ressourcen von Kindern und Familien."

Vielen Dank für das wichtige Gespräch!

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