Zugegeben, das "Theatre of Memory" hat uns in vielerlei Hinsicht inspiriert, schlägt es doch im Förderbereich Forschung eine Brücke zum Förderschwerpunkt Kunst und Kultur. Deshalb haben wir uns "getraut", in diesem besonderen Interview Fragen zu stellen, die uns als fördervielfältige Stiftung besonders interessieren. Und wir haben uns sehr gefreut, dass Tim Otto Roth bereit war, diese nicht einfachen Fragen zu beantworten.
Im Förderbereich „Forschung und Wissenschaft“ arbeiten wir u.a. mit Neurolog*innen zusammen, die durch ihre Forschung dazu beitragen, die Gesundheit des Menschen zu verbessern bzw. Therapieansätze entwickeln zu können. Beim Besuch des „Theatre of Memory“ hatten wir den Eindruck, dass Ihre Installation den Menschen ermöglichen kann, zu „verstehen“, wie Stress entsteht bzw. wie Stress reguliert werden kann. Finden Sie das weit hergeholt oder finden Sie diesen Eindruck in Ihrem Konzept wieder?
Tim Otto Roth: "Die Assoziation mit einer gewissen Form von Stress ist naheliegend, da das Lautsprecherorchester gleich unserem Nervensystem stets von einer durchaus im positiven Sinne zu verstehenden Gereiztheit lebt: In unserem Gehirn feuern immer irgendwelche Neuronen, auch wenn wir schlafen oder sogar wenn wir betäubt sind – bei einer Funkstille wäre es aus mit uns. Was sich mit den 70 Lautsprechern zeigen lässt, wie sich diese gegenseitig durch Töne zu äußerster Gereiztheit befeuern können. Sind diese „Audioneuronen“ stark untereinander vernetzt, dann äußert sich dies in clusterartigen Entladungen. Man lernt aber auch den moderierenden Effekt von negativem Feedback kennen: bestimmte Töne können eine hemmende Wirkung haben, die den „Stress“ nicht nur besänftigt, sondern überhaupt erst besonders subtile raumzeitliche Aktivitätsmuster ermöglicht. Die Komplexität dieser Dynamik des sich gegenseitigen Anregens und Hemmens wird deutlich an den sich verändernden Farben der Lautsprecher, die den Reizzustand – im Fachjargon spricht man von Membranpotential – anzeigt.
Sicherlich wäre es für menschliche Stresssituationen sprichwörtlich entspannter, wenn man wie eine Nervenzelle damit umgehen könnte: Werden Nervenzellen soweit angeregt, dass sie selbst einen Impuls abgeben, sind sie erst einmal nicht ansprechbar und entspannen sich wieder."
Die Stiftung konzentriert sich auf drei Förderbereiche: Wissenschaft und Forschung, Bildung und Soziales sowie Kunst und Kultur. Wir haben den Eindruck, dass Ihre Installation alle drei Bereiche miteinander verbindet. Könnten Sie sich vorstellen, dass auch Kindergartenkinder (wir fördern den Bereich der frühkindlichen Bildung) das „Theatre of Memory“ besuchen und wenn ja, was könnte den Kindern dort vermittelt werden?
Tim Otto Roth: "Ihre drei Förderbereiche sehe ich ebenfalls verbunden. Was die Vermittlung anbelangt, ist immer die Frage, wie hoch man die Fahnenstange hängt: Auch ohne jegliche Erläuterung dürfte sich durch reines Zuhören und Beobachten transportieren, dass das Geschehen nicht zentral gesteuert wird, sondern ein dynamisches Ergebnis des sich gegenseitigen Anregens aber auch Hemmens ist. Wenn dieses Konzept der Selbstorganisation aber auch des negativen Feedbacks, das sich im Hemmen artikuliert, rüberkommt, dann ist damit schon viel gewonnen. Das kann auch mit den ganz kleinen Besucherinnen und Besuchern funktionieren – wir hatten schon begeisterte Kindergartenkinder in unseren anderen großen Klanginstallationen „Heaven’s Carousel“ und „[aiskju:b]“. Beim „Theatre of Memory“ müsste man vermutlich für die Altersklasse aber die Stücke nochmal anders konzipieren und möglicherweise noch eine Interaktionskomponente mit einbauen."
Was hat Sie zu der Idee inspiriert, das „Theatre of Memory“ als Projekt zu initiieren und umzusetzen - welche Frage hat Sie vielleicht angetrieben und/oder welche Vision hat Sie begleitet? (Wir stellen diese Frage, weil Heinz Dürr ein besonders neugieriger und interessierter Mensch war, der sich für die Gesellschaft einsetzte).
Tim Otto Roth: "Den Anstoß für das Projekt gab es vor mehr als fünfzehn Jahren als mich ein Neurobiologe am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden mit Fluoreszenzmikroskopaufnahmen von Neuronengeweben konfrontierte: Das Besondere hieran war, dass die Zellen, die vollkommen chaotisch miteinander verbunden waren, alles andere als chaotische elektrische Impulse sendeten. Zu meiner großen Verwunderung war es vielmehr eine Art von Pulsieren, bei dem ein Großteil der Neuronen gleichzeitig aufleuchteten. Meine Neugierde weckte vor allem, dass diese Selbstsynchronisation ohne eine dirigierende Instanz geschieht, sondern rein durch Selbstorganisation. Es war für mich relativ bald klar, darauf künstlerisch mit einem Netzwerk basierend auf diskreten Tönen zu reagieren. Von 2010–12 hatte ich erstmals Gelegenheit diese neue Form des Instruments, das ich auch Sonapticon nenne, zusammen mit einem Tonmeister und einem Neuromathematiker im Klangdom des ZKM Karlsruhe zu realisieren. Mit der jetzigen Ausführung als „Theatre of Memory“ gehe ich mit meinem Studio noch eine Spur weiter, in dem wir das Konzept auf eigens konzipierte Lautsprecher übertragen, die wir über ganze Räume verteilen können. Wir können somit flexibel auf die unterschiedlichsten Räume reagieren, die Arbeit wird noch immersiver und das Farbspiel erweitert das Ganze zu einem Musiktheater. Ein besonderer Glücksfall ist es, dass das „Theatre of Memory“ Dank der Zusammenarbeit mit Berliner Neurowissenschaftlern an so einem besonderen Ort wie dem Tieranatomischen Theater Premiere feiern konnte."
Vielen herzlichen Dank für das spannende Gespräch!