Sarah Blendin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Exilmuseum Berlin und hat sich auf Spurensuche begeben. Sie erforscht die Geschichten hinter den vielen Zahlen und Statistiken zum Exil um 1933 bis 1945. Sie hielt nicht nur zahlreiche Geschichten und Fotos in den Händen, sondern sie kam auch aktiv in den Austausch mit geflüchteten Menschen. Warum es ein Exilmuseum braucht und wie Menschen sich einander annähern können, erzählt sie in unserem Interview.

1. Frau Blendin, warum braucht es ein Exilmuseum?

Sarah Blendin: "Das Exilmuseum nimmt jene Menschen in den Blick, die ab 1933 von den Nationalsozialisten verfolgt wurden und sich durch Flucht aus Deutschland retten konnten. Vor allem Juden und Jüdinnen sowie politische Gegner*innen des Regimes mussten den Weg ins Exil antreten. Es gibt mittlerweile viele Dokumentationszentren und Gedenkstätten zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust, aber kaum Orte, an denen die Menschen im Mittelpunkt stehen, die im Exil überlebten. An ihre Schicksale und oftmals komplizierten Lebenswege zu erinnern, ist eine wichtige Aufgabe.
Heute ist Flucht und Migration ein omnipräsentes Thema und viele suchen in Deutschland Zuflucht. Da liegt es nahe, sich mit der Zeit zu beschäftigen, als Menschen aus Deutschland flohen und über die Welt verstreut wurden. Es ist sehr interessant und aufschlussreich nachzuverfolgen, wie es ihnen in Paris oder Shanghai, in Tel Aviv oder Rio de Janeiro eigentlich erging, mit welchen Jobs sie sich über Wasser hielten, mit welchen Herausforderungen sie zu kämpfen hatten und wie sie den seltsamen Zustand des Exils reflektierten. Auf Basis solcher Erfahrungen werden wir im Exilmuseum immer wieder die Brücke zur Gegenwart schlagen und das Leben von Menschen im Exil hier und heute beleuchten.

2. Sie sind wissenschaftliche Mitarbeiterin und haben viele verschiedene Exil-Biografien in Ihren Händen gehalten. Welche der Exil-Geschichten bewegte Sie bei Ihrer Recherche am meisten?

Sarah Blendin: "Es gibt so viele Exil-Geschichten, die bewegend oder besonders sind, dass es schwerfällt, eine herauszugreifen. Tief beeindruckt hat mich ein Interview, das ich mit Ruth Barnett geführt habe. Sie ist 1939 als kleines Kind mit einem Kindertransport nach England gekommen und wurde in mehreren Pflegefamilien untergebracht. Großbritannien vergab damals ca. 10.000 Sondervisa für Kinder von verfolgten jüdischen Familien. Die verzweifelten Eltern schickten ihre Kinder ins sichere Ausland und hofften, selbst bald folgen zu können. Viele Kinder sahen ihre Eltern nie wieder, weil sie im Holocaust ermordet wurden. Die Eltern von Ruth Barnett überlebten und wollten sie nach dem Krieg zurück nach Deutschland holen – eine zweite, hochtraumatische Erfahrung für sie als Teenager. Denn mittlerweile, nach fast zehn Jahren, war sie völlig entfremdet von ihren Eltern und ihrer deutschen Herkunft. Erst Jahrzehnte später gelang es ihr, die eigene Geschichte aufzuarbeiten und Frieden damit zu machen. Mich hat fasziniert, mit welcher Klarheit und Wärme Ruth von Ihrem Schicksal, von all den Verletzungen und ihrer Identitätssuche sprach und wie sie immer wieder auch an die Traumata heutiger Kinder auf der Flucht erinnerte."

 3. In Ihrer Ausstellung "Zu/Flucht" kommen auch aktuell geflüchtete Menschen zu Wort. Was braucht es Ihrer Meinung nach, damit Menschen sich angekommen fühlen?

Sarah Blendin: "Um diese Frage zu beantworten, haben wir Menschen mit Fluchterfahrung im Rahmen eines Workshops befragt. Daraus entstand das „Alphabet des Ankommens“, das man in der Ausstellung sehen kann. Gemeinsam mit den Geflüchteten haben wir 26 Begriffe gefunden, die wichtige Faktoren beim Prozess des Ankommens im neuen Land, im neuen Leben sind – von „Erinnerung“ über „Qualifikation und Arbeit“ bis hin zu „Wer bin ich?“ Die Suche nach der eigenen Identität ist fernab der eigenen Familie, Sprache und Kultur besonders schwierig. Dazu kommt, dass viele die Erfahrung gemacht haben, nicht mehr als Personen mit individuellen Erfahrungen wahrgenommen zu werden, sondern nur noch als „Flüchtling“. Die Gespräche haben auch noch einmal verdeutlicht, dass es nicht nur die Ankommenden sind, die zur Integration bereit sein müssen, sondern auch die Aufnahmegesellschaft. Das deckt sich auch mit dem historischen Exil: Dort wo Menschen Teilhabe und Chancen bekamen, konnten sie sich erfolgreich integrieren."

Vielen Dank für das spannende Gespräch!

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