Prof. Dr. Birgit Mazurek ist Direktorin des Tinnituszentrums der Charité Berlin. An Tinnitus leiden mittlerweile mehrere Millionen Menschen in Deutschland, deren Anzahl stetig steigt. Da jeder vierte Tinnitus-Patient einen Verlust der Lebensqualität beklagt, ist es überaus wichtig, dass die Erforschung der Ursachen für Tinnitus sowie neue Wege der Behandlung forciert und intensiviert werden. Dafür sorgt die Deutsche Tinnitus-Stiftung und allen voran Birgit Mazurek...

1. Wieso braucht es eine Stiftung speziell für Tinnitus?

Birgit Mazurek: "Erstens: Etwa drei Millionen Menschen leiden allein in Deutschland unter Tinnitus. Zunehmend sind schon junge Menschen betroffen. Dennoch fehlt es an finanziellen Mitteln für die Forschung. Aufgabe der Deutschen Tinnitus-Stiftung Charité ist es, Fördermittel zur Verfügung zu stellen. Zweitens: Tinnitus ist noch immer ein verborgenes Leiden, oft verschwiegen aus Furcht vor beruflichen und gesellschaftlichen Benachteiligungen. Die Stiftung schafft durch ihre Öffentlichkeitsarbeit mehr Akzeptanz in der Bevölkerung. Drittens: Präventiv kann jeder Einzelne selbst Entscheidendes tun. Die Stiftung klärt darüber auf. Aber sie engagiert sich auch vor Ort – etwa bei Musikfestivals, wo der Schutz der Ohren so wichtig ist. Und sie geht in Kitas und Schulen. Denn die Achtsamkeit kann nicht früh genug eingeübt werden."

2. Es wird oft behauptet, dass Tinnitus mit Stress in Zusammenhang steht. Sehen Sie das auch so?

Birgit Mazurek: "Tinnitus ist ein komplexes Leiden. Es entsteht durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren. Durch mehrjährige Forschungsprojekte, die wir dank der Unterstützung durch die Heinz und Heide Dürr Stiftung realisieren konnten, ist nun die Vermutung erhärtet, dass es tatsächlich Verbindungen zwischen den Stress-, Gefühls- und Hör-Systemen gibt. Überdies konnte durch unsere Langzeituntersuchungen nachgewiesen werden, dass dem Ausbruch von Tinnitus häufig Phasen von besonders schwerem emotionalem Stress vorausgegangen sind. Und selbst bei bereits vorhandenem Tinnitus lässt sich oft feststellen, dass negativer Stress zu verstärkten Tinnitus-Geräuschen führt."

3. Wenn Tinnitus ein Tier wäre, welches wäre es dann und warum?

Birgit Mazurek: "Tinnitus wäre vermutlich ein Chamäleon, ein kraftvolles Jungtier aus uralter Artenvielfalt. Ihre Entstehung ist noch immer nicht geklärt, und auch die Herkunft des Tinnitus ist noch nicht eindeutig belegt. Chamäleons machen sich oft unsichtbar, ihre Kunst der Anpassung ist groß. Sie sind langsame Tiere. Geduldig lauern sie auf ihr Opfer. Aber plötzlich schießen sie mit ihrer Zunge hervor und verschlingen es. In der afrikanischen Mythologie haben Chamäleons eine Mission: Sie überbringen Botschaften der Götter. Es sind freundliche Botschaften fürs bessere Leben. Das Chamäleon ist kein Tinnitus, aber durch beide kann man dieselbe Frage hören: Wie können wir so leben, dass wir das Maß unserer eigenen Möglichkeiten nicht übersteigen?"

Vielen Dank für das spannende Gespräch!

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