Anja Kerle ist Hochschullehrerin im Fachbereich Soziales und Gesundheit der Fachhochschule Vorarlberg und vollendete zuletzt ihre Dissertationsarbeit, die sie im Rahmen ihrer Promotion des "Promotionskolleg frühkindliche Bildung" in Hildesheim in Kooperation mit der Heinz und Heide Dürr Stiftung absolviert. In diesem Interview spricht sie über Kinderarmut zu Corona-Zeiten und über die Möglichkeit, die bisherige Familienförderung zu erweitern.

1. Frau Kerle, wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf Kinderarmut aus?

Anja Kerle: "Erste Studien (z.B. des DJI) zeigen, dass armutserfahrene Kinder besonders unter den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen während des Lockdowns litten. Dies hat verschiedene Gründe- man denke an die begrenzten Wohnverhältnisse und die eingeschränkten Möglichkeiten, öffentliche Orte (Spielplätze) zu nutzen. Zudem waren kindheitspädagogische und sozialarbeiterische Unterstützungsangebote in dieser Zeit wesentlich schwerer zu erreichen. Unterm Strich bedeutet dies, dass bereits benachteiligte Kinder und Familien im Zuge der Pandemie noch mehr benachteiligt wurden. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass durch Arbeitsplatzverluste zusätzlich weitere Familien unter die Armutsgrenze rutschten.

Leider wurden armutserfahrene Familien in der Corona-Zeit vom Sozialstaat ziemlich alleine gelassen, so wurde beispielsweise der Hartz-4 Satz in dieser Zeit nicht angehoben, obwohl die Ausgaben für Hygieneartikel, Lebensmittel, Strom und Heizung in dieser Zeit deutlich höher waren und Sozialverbände für eine monatliche Erhöhung von 100€ plädiert haben."

2. Was halten Sie von der Idee eines Kindergrundsicherungsmodells als Erweiterung der bisherigen Familienförderung?

Anja Kerle: "Ich halte die Idee der Kindergrundsicherung grundsätzlich für einen sehr guten Ansatz, denn - so hat es auch der paritätische Armutsbericht dieses Jahr herausgestellt- gegen Armut hilft in erster Linie nun einmal Geld. 

Eine Kindergrundsicherung macht außerdem deutlich, dass es das Recht eines jeden Kindes in Deutschland ist, in Wohlergehen und ohne Armut aufzuwachsen und dass es sich hierbei nicht um das Zugeständnis eines Staates oder einer Leistungsgewährenden Person beim Jobcenter handelt. 

Gleichzeitig braucht es neben einer Kindergrundsicherung weitere vielfältige Methoden und Wege, um Armut zu bekämpfen und armutserfahrene Familien zu unterstützen, beispielsweise durch Angebote im Sozialraum, wie sie eben in Familienzentren geleistet werden können."

3. Gibt es eine Figur, die Ihnen als Vorbild zum Thema „Armut“ dient?

Anja Kerle: "Wenn ich über das Thema Ungleichheiten und Armut nachdenke, dann inspiriert mich der Soziologie Pierre Bourdieu sehr. In seinen Studien zeigt er auf, wie gesellschaftliche Ungleichheiten entstehen und inwiefern das Bildungssystem selbst zur Aufrechterhaltung und Verschleierung von Ungleichheiten beitragen kann. Dabei richtet er aber auch den kritischen Blick darauf, wie eigentlich Wissenschaft betrieben wird und in welchen machtvollen Zusammenhängen das Wissen über Ungleichheiten beispielsweise produziert wird (eine Paradoxie, möchte man* meinen). Sich selber und seine eigene soziale Position immer mitzudenken, wenn wir über Armut und Ungleichheit sprechen, finde ich sehr stark!

Am meisten begeistert mich daran, dass Bourdieu selbst aus aus einer Nicht-Akademischen Familie stammte und ihm vielleicht sogar deshalb eine wichtige und damals zukunftsweisende Perspektive möglich war."

Vielen Dank für das spannende Gespräch!

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