Tine Rahel Völcker ist Theaterautorin. Und Stimmenleserin! Denn Schreiben sei wie Zuhören. Kein Wunder, dass durch eine so gefühlvolle und ungewöhnliche Herangehensweise Texte und Stücke entstehen, die nicht nur angesehen, sondern auch gefühlt werden. Die drei Antworten, die wir auf unsere Fragen bekommen haben, geben einen tiefen Einblick in eine Arbeit, die von großer gesellschaftlicher, kultureller wie persönlicher Relevanz ist.

1. Wie sieht der gewöhnliche Arbeitsalltag einer Theaterautorin aus?

Tine Rahel Völcker: "Im Geist einen großen Koffer bei mir tragend durchstöbere ich die Archive und Bibliotheken und packe alles ein, was mich anzieht. Oft entsteht an diesen unscheinbaren, grauen Tischen in der Stabi oder dem Bundesarchiv aus Randnotizen ganz plötzlich ein leidenschaftlicher Monolog, von dem ich noch nicht weiß, an welcher Stelle im Stück er stehen wird, weil ich über das Stück zu dem Zeitpunkt noch nichts weiß. Doch anscheinend weiß ein Teil von mir schon sehr genau Bescheid und schreibt. Ich schenke dem plötzlichen Hereinbrechen des Schreibens in die Recherche große Aufmerksamkeit, es ist ein Wegweiser.
Mit einem vollen Koffer begebe ich mich wieder an den Schreibtisch, und Schreiben heißt zuhören. Dazu schalte ich das Telefon aus, ziehe mich zurück in mein Zimmer und bleibe dort, bis alles geklärt ist - mit den Stimmen des Textes.
In letzter Zeit stecke ich vor allem in Inszenierungsvorbereitungen. Da tauche ich mit der Bühnenbildnerin den Kopf in das Stück und den Raum, und wenn wir nach Stunden wieder auftauchen, habe ich neue Bilder, Möglichkeiten und Spielanlässe in meinem Koffer, der sich allmählich für die Proben füllt."

2. Zieht sich durch Ihre Arbeit ein bestimmter roter Faden, der ihre Stücke thematisch miteinander verbindet?

Tine Rahel Völcker: "Viele meiner Stücke sind Heimsuchungen. Es ist ihnen etwas Vergangenes und Unbewältigtes eingeschrieben, das sich literarisch Raum verschafft. Die Stücke suchen dabei die Nähe zu den jeweiligen Menschen in ihren Schwächen, Sehnsüchten, ihrer Verletzlichkeit. Das Auftauchen dieser vielschichtigen Charaktere, die in einer Vergangenheit festhängen, von der sie nicht loskommen - ich würde sagen, das zieht sich durch."

3. Was hat Sie als Autorin zu einer Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Vergangenheit in Ihrem letzten Stück inspiriert? Hätten Sie sich im Geschichtsunterricht in der Schule eine andere Art der Geschichtsvermittlung gewünscht?

Tine Rahel Völcker: "Was mich zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bewegt, ist die Gegenwart. Ihre seltsame Form hat sie doch von Geschehnissen aus der Vergangenheit. Verletzungen und gewaltvolle Ereignisse prägen nicht nur den individuellen Menschen sondern auch eine Gesellschaft auf lange Zeit. Und erst recht, wenn es sich um eine Massentötung handelt, die ministeriell angeordnet wurde. Theater kann Gewalt benennen, kann sprechen, wo sonst nicht gesprochen würde, kann jenseits des Schweigens einen neuen, kraftvollen Raum eröffnen.
Ja, ich hätte mir in der Schule einen Geschichtsunterricht gewünscht, der sich nicht aus lauter Angst vor den Energien und Fragen der Jugendlichen in die Langeweile flüchtet. Wer selber nichts mehr wissen will, vermittelt auch nichts. Ich wünsche mir Geschichtslehrer*innen, die selber mehr Fragen haben als Antworten."

Vielen Dank für das spannende Gespräch!

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