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Fazit: Vortrag zum Umgang mit Armut mit Anja Kerle

1,5 Millionen Kindern leben aktuell mit Hartz IV-Bezug – ein Armutszeugnis für ein so reiches Land wie Deutschland. Mit einigen neuen Maßnahmen, wie einer Kindergrundsicherung versucht die neue Bundesregierung der weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich entgegenzuwirken. Ebenso setzt auch der Early Excellence-Ansatz darauf, Kindern und ihren Familien durch den sogenannten “Positiven Blick“ diskriminierungsfrei zu begegnen und durch ein qualitativ hochwertiges pädagogischen Angebot ALLEN Kindern einen guten Start in ihre Bildungsbiografien zu ermöglichen und auch ihre Familien wo nötig dabei zu unterstützen.

Inwiefern dieser Ansatz in den Early Excellence-Einrichtungen funktioniert und welche Potenziale der Ansatz im Umgang mit Armut bereithält, hat Anja Kerle kritisch in ihrem Vortrag “Early Excellence und der Umgang mit Armut” kritisch unter die Lupe genommen.

Einen Überblick schaffen: Wie gelingt Early Excellence-Einrichtungen der Umgang mit Armut?

Die Promovendin des Promotionsstipendiums der Heinz und Heide Dürr Stiftung, der Uni Hildesheim und der Hochschule Esslingen Anja Kerle forschte in ihrer Dissertationsstudie “Armut im Blick? Eine dispositivanalytische Ethnografie zu Familienzentren nach Early Excellence”, inwiefern die Einrichtungen mit der Early Excellence-Methodik, insbesondere dem “Positiven Blick”, dem Anspruch zum Abbau sozialer Ungleichheiten nachkommen. Anschaulich, strukturiert und mitreißend, stellte die Referentin ihre Ergebnisse vor, die sie im Dezember 2021 einreichen durfte. Ihr Vortrag enthielt durchaus kritische Anmerkungen, konnte aber auch die Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten von Early Excellence zeigen.

Aufbau und Methodik der Studie.

Anja Kerle entschied sich in ihrer Forschung für eine offene, ethnografische Feldforschung, d.h. sie begab sich zwischen Januar 2018 und Juli 2019 direkt in ein Familienzentrum im Süden Deutschlands und nahm am Alltag und den Angeboten teil. Neben dem Aufenthalt im Feld wurde die Programmatik auch in der Literatur analysiert.

Schritt 1: Forschender Blick auf Ausgangssituation Armut und im Hinblick auf Early Excellence.

Zunächst betrachtet Anja Kerle Armut als Folge von strukturellen sozialen Ungleichheiten und gleichzeitig Armut als Ausgangspunkt von weiterer Benachteiligung, Abwertung und Stigmatisierung (Klassismus).

Der ureigenste Anspruch von Early Excellence war in England damals, soziale Ungleichheiten abzubauen, Familien zu begleiten und ihre Kinder individuell so zu fördern, dass sie trotz erschwerter Umstände gleiche Chancen in ihrer Entwicklung haben.

In dieser Hinsicht wird dem Early Excellence-Ansatz viel Potenzial zugesprochen. Es gibt bis heute aber explizit zu diesem Thema keine empirischen Ergebnisse.

Schritt 2: Einblicke in die Ergebnisse.

Ihre Ergebnisse unterteilte sie in unterschiedliche Blickschneisen:

  • Der Blick auf Eltern und Kinder in der Konzeption des Early Excellence-Ansatzes: Was bedeutet die Exzellenzvermutung, welches Bild vom Kind und welche Sichtweise auf Eltern steckt in der Programmatik? Welchen Auftrag haben EE-Einrichtungen laut Programmatik und was hat das alles mit dem Thema Armut zu tun?
  • Beobachtungen – Was bedeutet es Kinder, mit dem “Positiven Blick” zu betrachten, und was wird gesehen und evtl. dabei übersehen?
  • Armut in Blick? – Wir wird Armut von den Pädagog:innen selbst definiert, welches Wissen haben sie und wie wird damit in der Praxis umgegangen?

Blickschneise 1: Der Blick auf Eltern und Kinder.

In einem ersten Schritt betrachtete Anja Kerle das Bild vom Kind und dessen Exzellenzvermutung. Diese wird ganz unabhängig von der sozialen Herkunft in der KiTa etabliert. Durch diese Annahme werden Kinder zu gleichen unter gleichen, alle Kinder haben die gleichen und guten Voraussetzungen (von Natur aus), um sich gut zu entwickeln. Darin steckt die Idee, bei guter Begleitung den Lern- und Bildungserfolg von allen Kindern ermöglichen zu können und damit auch den sozialen Aufstieg. Die KiTa wird zum Mobilitätsagent für eben diesen sozialen Aufstieg indem Rahmenbedingungen hergestellt werden sollen, innerhalb derer das Kind sein Wesen frei zur Entfaltung bringen kann. Dadurch kann mehr Leistungsgerechtigkeit entstehen. Diese Haltung führt zu einer starken Fokussierung auf das Individuum und verschleiert aber strukturelle Hürden und Barrieren im Bildungssystem.
Auch Eltern werden als „lernrelevanter Kontext“ dargestellt und als erste Expert:innen ihrer Kinder sowie der häuslichen Lebensumwelt. Dieser Erfahrungsraum des Kindes soll von Fachkräften erschlossen werden. Auch diese Fokussierung auf das Thema der häuslichen Lernumgebung birgt die Gefahr, andere Themen und Problemstellungen im familiären Kontext zu übersehen.

Blickschneise 2: Der positive Blick und die Beobachtungssystematik

Die Idee des „positiven Blicks“ als Haltungsleitlinie im Umgang mit allen Beteiligten einer EE-Einrichtung ist Herzstück der Programmatik. Dabei deklariert die Early Excellence-Konzeption, dass dieser Blick stets wertfrei und objektiv auf die Kinder gerichtet ist: Mithilfe von bestimmten Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren, werden Kinder positiv betrachtet und ihre Stärken herausgestellt.

Doch stellt Anja Kerle kritisch in ihren Ergebnissen fest, dass der „positive Blick“ nie wertneutral erfolgen kann, da ja die dezidierte Ausrichtung auf die Stärken oder Ressourcen eines Kindes bereits eine gefärbte Perspektive darstellt. In vielen Beobachtungsbögen wird aus diesem Grund heute längst von der „bewertungsfreien“ Beobachtung und nicht mehr von einer „wertfreien“ Beobachtung gesprochen (Anmerk. der Verfasser:in).

Der „positive Blick“ wird dabei in der Programmatik als Erfolgsgarant bezeichnet. Schwerpunkt im Konzept ist also immer wieder diese eine bestimmte Haltung von Fachkräften, mit der sich die Dinge dann quasi automatisch in die richtige Richtung entwickeln werden. Dabei werden in den Augen von Anja Kerle organisatorische und strukturelle Fragestellungen nicht ausreichend thematisiert.

Fazit zu den Beobachtungssystematik.

Der Blick in unserer Early Execellence-Beobachtungssystematik ist nicht objektiv, sondern eben ressourcenorientiert. Es wird auf ganz bestimmte Aspekte fokussiert. Dadurch entsteht bei den Fachkräften Unsicherheit im Umgang mit Entwicklungsverzögerungen oder anderen Vulnerabilitäten. Wo und wie sollen diese benannt werden? In informellen Gesprächen haben die FK das vollkommen im Griff, aber innerhalb des Verfahrens gibt es keinen Raum, reflexiv mit Aspekten, die das Kind vielleicht noch nicht so gut kann oder zu denen es Förderbedarfe gibt, umzugehen.

In Bezug auf Armut stellt Anja Kerle sehr deutlich und kritisch in den Raum, dass z.B. in der Beobachtungssystematik nicht systematisch danach gefragt wird. Es gibt in der ursprünglichen Konzeption keinen Raum, in dem die Fachkräfte über Vulnerabilitäten, oder Aspekte von entwicklungsnorm-abweichendem Verhalten oder Förderbedarfe systematisch thematisieren können. Auch durch die in der Programmatik eingeforderte Haltung drohen diese Themen übersehen zu werden. In Bezug auf Armut ist das fatal, weil gerade die Identifikation und das Benennen solcher Themen ein wichtiger Auftrag der KiTa sein sollte. Es besteht laut Kerle die Gefahr einer Armutsignoranz, die über den “Positiven Blick” legitimiert wird.

Blickschneise 3: Armut im Blick?

Hier beruft sich Anja Kerle zunächst auf eine Studie von Stefanie Simon: Armut ist bis heute kein Thema in den Curricula der Fachschulen und so ist es kein Wunder, dass es kaum Wissen im Feld zu diesem Thema gibt. Dies hat zur Folge, dass viel persönliche Deutungen und Interpretationen passieren. Armut (z.B. finanzielle Not) wird laut Kerle dann häufig im außen verortet und erst innerhalb der KiTa zum Thema, wenn z.B. durch mitgebrachtes Spielzeug die Gleichheit innerhalb der Einrichtung gefährdet ist.

Und Armut wird aus der Perspektive der Fachkräfte als Stigma betrachtet, das es in der Begegnung mit den Familien zu vermeiden gilt, d.h. eben beschämungsfreie Angebote für alle, niederschwellige Zugänge, damit alle auch beteiligt werden und niemand stigmatisiert wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass alle Familien ähnliche Bedarfe haben – auch die von Armut Betroffenen.

Armut wird erneut individualisiert und durch den positiven Blick teilweise sogar umgedeutet. Aber das löst manche Problemstellungen, die mit dem Thema Armut einhergehen nicht auf!

Schritt 3: Ausblick – welche Potenziale hat Early Excellence im Hinblick auf Armut?

Armutsreflexive Praxis zu gestalten bedeutet laut Kerle: neben der bisher starken Fokussierung auf die einzelnen Fachkräfte und deren Haltung müssen die Ebene der Konzeption/Programmatik und der Organisation nochmals stärker in den Blick genommen werden! Das kann also nicht ein „noch positiverer Blick der Fachkräfte richten“, sondern es braucht zeitliche, personelle und auch räumliche Ressourcen!

Die sozialräumliche Perspektive muss weiterentwickelt werden und der ursprüngliche Spirit aus dem Englischen, nämlich ALLEN Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen, wieder stärker in den Fokus rücken.

Kerle fordert zuletzt noch die Revision des Kindheitsbildes und Abgrenzung zur neoliberalen Idee einer Leistungsgerechtigkeit!

Und auch auf organisatorischer Ebene müssen strukturelle Barrieren in den Blick genommen werden (evtl. sind auch so etwas wie Quotenregelungen hilfreich) und auch das Bereitstellen von existentiellen Gütern sollte in Early Excellence-Einrichtungen systematisch verankert bzw. das Thema Verteilungsgerechtigkeit differenziert diskutiert werden.

Außerdem braucht es ein Wissen darüber, dass Armut eine multiple gesamtgesellschaftliche Problemlage und kein individuelles Fehlverhalten ist, was es immer wieder auch politisch zu adressieren gilt!

(Autor:in: Sasha Saumweber und Valerie Pagel)

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